Sonntag, 8. August 2010

Zwischen 3.Welt, Autorenkino und Hollywood...

Eine Frage, die sich im Vorlauf zu einem Festival wie Locarno stellt, besonders wenn man es zum ersten Mal besucht, ist: Was erwartet mich inhaltlich? Wo liegen die Programmschwerpunkte des Festivals, bzw.: Wie sieht sein Profil aus?
Ein kurzer Blick in den „International Guide Film–Video–Festival“ liefert als Schwerpunkte: Allgemein, Debutfilm, Menschenrechte.
Das Festival selbst stellt auf seiner Internetseite einige Besonderheiten heraus, welche seine einzigartige Stellung in der Festivallandschaft ausmachen: Innovationsdrang, die Tatsache auf eine lange Liste von Regisseur_innen blicken zu können, welche auf dem Festival entdeckt wurden, sowie Meisterklassen, in denen interessierte Zuschauer_innen in Kontakt mit den Filmemacher_innen treten können. Des Weiteren gibt man sich betont pluralistisch in dem Versuch, alle Strömungen des zeitgenössischen Kinos abzudecken, vom Blockbuster zum Indiestreifen, vom Dokumentarfilm bis zum experimentellen Kurzfilm. Doch wie kommt es zu diesem Profil, welches in seiner Offenheit fast kein ausgeprägtes Profil mehr zu seien scheint, sich jedoch in manchen Aspekten von den anderen A-Festivals absetzten will?

Viele der heute noch profilbildenden Aspekte des Programms gehen besonders auf die Zeit zwischen der Mitte der 50er und 1970 zurück, in der das Festival zuerst unter der Leitung Vincio Berettas, danach unter der Sandro Bianconi und Freddy Buaches stattfand.
Schaut man sich die ersten Jahre des 1946 durch den Tourismusverein „Pro Locarno“ gegründeten Festivals an, so fällt besonders ab 1948/49 der feste Platz auf, den der italienische Film, im Besonderen der italienische Neorealismus einnahm. Ab 1958, beginnend mit Claude Chabrols „Le beau Serge“, diente Locarno zunehmend als Plattform für die in Frankreich aufkeimende Nouvelle Vague und etablierte sich so als Festival der Autorenfilmer_innen in der europäischen Festivallandschaft. Ein Schwerpunkt, den das Festival lange und trotz aller notwendigen Komprimisse zu erhalten versuchte.

In den ersten 15 Jahren gab es neben diesen Strömungen schon eine Vielfalt, die mit Filmen aus der Sowjetunion, Westeuropa sowie ersten Filmen aus Südamerika, Asien und Afrika einen globalen Weitblick – auch für junge Filmnationen zeigte, der in den 60er Jahren immer weiter an Bedeutung zunehmen sollte.
Einzig der Schweizer Film fand bis 1958 in Locarno überhaupt nicht statt.

Als 1962 dem Festival der A-Status von der FIAPF entzogen wurde, bekam es damit auch die Auflage, im Wettbewerb nur noch Erstlingswerke zu zeigen. Dies machten die Organisator_innen von der Not zur Tugend, machten aus Locarno ein Festival des jungen Filmes und zeigten nur noch außerhalb des Wettbewerbs „klassische“ Filme.

In den folgenden Jahren wurde dieser Fokus auf den jungen Film, auch auf den junger Filmnationen aus der 3. Welt sowie auf Schweizer Produktionen immer zentraler. Auch ein großer Anteil an Kurzfilmen, als Debutwerke junger Filmemacher_innen, fand im Programm Platz. Zudem wurde in enger Zusammenarbeit mit Filmschulen der Schweizer Film vorangetragen.
Dieses Konzept mit starkem Fokus auf künstlerische und didaktische Werte und weniger auf mondänen Freizeitgenuss, gegen das Journalist_innen polemisierten, gepaart mit der unzureichenden Förderung des Festivals durch Bund und Kanton, führte im Jahr 1970 jedoch zum Rücktritt der Festivalleitung (Bianconi & Buache) und zur kompletten Neustrukturierung des Festivals.

Mit der Verschiebung des Festivaltermins aus dem Herbst in den Sommer, der Einführung des Piazza-Kinos, einem Programm, welches mehr Zugeständnisse an das Publikum sowie die großen Filmverleiher machte, kam das Festival wieder in den Bereich wirtschaftlicher Tragbarkeit, wobei es sich den Vorwurf des Verrates der eigenen Identität gefallen lassen musste, als im Jahr 1971 nur 3 Minuten Film aus Schweizer Produktion (2 Kurzfilme) sowie eine Produktion aus der 3.Welt auf der Leinwand zu sehen waren.

In den darauf folgenden Jahrzehnten schaffte das Festival jedoch immer besser den Spagat zwischen künstlerischen und kommerziellen Interessen. Die drastische Ablehnung Hollywoods und des Zuschauergeschmackes, die Beretti hochgehalten hatte, wurden relativiert, ohne komplett vergessen zu werden.
Besonders seit den 90ern wird Locarno zugute gehalten, nicht wie die anderen A-Festivals zum reinen Filmmarkt und roten-Teppich Spektakel zu verkommen, sondern sich als Ort für Liebhaber der Zelluliodkunst zu erhalten. Als 1996 die schon 1967 gelockerte Regelung nur Erst- und Zweitfilme zu zeigen, ersetzt wurde durch die programmatische Festlegung auf aufkeimende Filmströmungen bzw. die Suche nach dem, was als „new cinema“ bezeichnet werden kann, verschaffte sich das Festival weitere Offenheit in der Programmgestaltung, ohne jedoch alte Ideale ganz verraten zu müssen.

Nun bleibt zu sehen, wie in diesem, dem 63. Jahr, die Gratwanderung zwischen alten Idealen und Erneuerung, zwischen Hollywoodfilmen und dem Anspruch, nicht nur die Filme der größeren Festivals lauwarm nachzuservieren, bestritten wird.

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