Donnerstag, 5. August 2010

Yippie Cahiers, Schweinebacken

Prego! Das Festival ist eröffnet, klammheimlich, mit einigen verschämt im Nachmittagsprogramm platzierten Highlights der - cineastissimo! - Lubitsch-Retrospektive, gefolgt von großem Tamtam bei der Eröffnungsgala und Benoit Jacquots AU FOND DES BOIS auf der Piazza.
„Entspannt und mit einem Lächeln“ habe die Bundespräsidentin Doris Leuthard das Festival eröffnet, Festivalpräsident Marco Solari bekundete wiederum seine Liebe zu Locarno und der Schweiz. Zwar sei Locarno provinziell, aber dank des Festivals zugleich die „internationalste Stadt der Schweiz“. Benoît Jacquots Film über einen Hypnotiseur, der eine ihm hörige Frau vergewaltigt, dürfte einigen die Sekt- und Schnittchenlaune verdorben haben, doch Olivier Père habe diesen Film ganz bewusst ausgewählt, erklärte sich gestern Abend das SF mit dem Festivalleiter solidarisch. Er wolle schockieren und inspirieren, das Festival solle so einen ganz neuen Glanz erhalten.

Damit folgen das Schweizer Fernsehen und andere Nachrichtenquellen dem Narrativ, das auch die Berichterstattung im Vorfeld dominierte: das Festival stehe mit seinem neuen künstlerischen Leiter am Scheideweg zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Hoch- und Popkultur. In einem „desorientierten Zustand“ zwischen den Extremen habe Père das Festival von seinem Vorgänger Frédéric Maire übernommen. Père hatte zuvor 6 Jahre die Quinzaine des Réalisateurs der Cannes-Festspiele geleitet, und versprach für seinen Dienstantritt 2010 „edgy auteur infusion“ statt klassischem Autorenkino.

Auch im Vorfeld kam das durch die häppchenweise angekündigten Programmhighlights zum Ausdruck, die wenig Zuschauerkino und viel Experimentelles versprachen. Mit dem kompletten Programm soll das Festival nun in den kommenden zehn Tagen die ersten Schritte auf dem Weg weg von einer elitären „politique des auteurs“ gehen, die schon seit den 1950ern von der Cahiers du cinéma und anderen als wichtigster europäischer Gegenpol zu dem Genre-Kino Hollywoods propagiert wurde, und die seit jeher als eines der großen Aushängeschilder europäischer Filmfestivals galt.

Doch was sollte das viertgrößte Festival Europas dem Mainstream sonst entgegenstellen, und wie soll sich Locarno auf dem Festival Circuit zwischen Cannes (Mai) und Venedig (September) profilieren? Den renommierten „Tag des Schweizer Films“ hatte Père gleich nach Amtsantritt kurzerhand gestrichen und damit den Rückhalt im eigenen Land gefährdet. Ein weiterer Fokus - der auf den asiatischen Autorenfilm - wurde verlagert, und das nun an im Vergleich zum Vorjahr an asiatischen Premieren arme Programm stehe, so beklagte etwa Patrick Frater in einem Branchenmagazin "[…] in Kontrast zu der Präsenz von […] indischen, südkoreanischen und anderen südostasiatischen Filmen" auf anderen großen Festivals wie Cannes und Venedig.

Dass diese Entscheidung nicht unbedingt eine freiwillige war, dürfte klar sein, schließlich ist die Auswahl an südostasiatischem Kino für Locarno durch die starken diesjährigen Agenden von Cannes und Venedig besonders eingeschränkt. Und so hofft das Festival in diesem Jahr auf ein schärferes Profil gegenüber seinen schärfsten Konkurrenten: mehr zu sein als ein "luxury showcase for world cinema" , experimentelleren Formaten und unentdeckten Filmnationen ein Forum zu geben; mehr Platz zu lassen für Dokumentarisches, Installationen und Grenzgänge - wie etwa Xu Xins KARAMAY, einer sechsstündige Dokumentation ohne Soundtrack und Voiceover über das Feuer im Theater der gleichnamigen uigurischen Stadt oder aber die schwule Zombie-Groteske L.A. ZOMBIE, die im Wettbewerb läuft.

Dennoch, es wird nicht alles anders: Mit den 50 Filmen von und mit Ernst Lubitsch wird die Tradition exzellenter Retrospektiven gepflegt, Locarnos Nähe zum italienischen Kino bleibt bestehen und ein Fokus liegt nachwievor auf Erstlingswerken. Und mit zwei Schweizer Filmen im Hauptwettbewerb (LA PETITE CHAMBRE, das Spielfilm¬debüt von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, sowie SONGS OF LOVE AND HATE von Katalin Gödrös), Stéphane Goëls Dokumentarfilm PRUD'HOMMES im Wettbewerb der Cineasti del presenti und dem Ehrenleopard für Alain Tanner ist der einheimische Film beim größten Schweizer Festival auch weiterhin nicht schlecht vertreten.

Am mutigsten erscheint am Ende des zweiten Tages noch die Entscheidung, Bruce LaBruces Untoten-Porno L.A. ZOMBIE im Wettbewerb zu platzieren – nicht so sehr, weil erigierte Penisse oder faulendes Fleisch noch irgendjemanden schocken würden, sondern weil der Film in seiner Reihung von Drastiken sein subversives Potential verspielt, und zwar, so Dominik Müller auf Artnet.de:

„[…] weil er allen echten Reflexionsanspruch unter den eingesetzten Klischees verschütten muss, bis er am Ende trotz der Ernsthaftigkeit seiner Themen zur Nummernrevue und Freakshow regrediert.“

Und so könnten Diskussionen um Filme wie L.A. ZOMBIE am Ende symbolisch für den weiteren Weg des Festivals stehen: Sind sie zu „edgy“, zu drastisch, und bleibt dann der Filmgeschmack der Eliten, die ohnehin und zeitgleich in den Luxushotels an den Gestaden des Lago Maggiore logieren?

Immerhin, beim diesjährigen Melbourne Film Festival bekam der LaBruce unfreiwillige Vorschusslorbeeren vom zimperlichen Australian Classification Board: Unter dem für Festivalpremieren fadenscheinigen Argument, der Film würde keine Altersklassifizierung erhalten, musste der Film dort jüngst aus dem Programm genommen werden. Für LaBruce ist das die beste Werbung für die Screenings in Locarno, eine eventuelle Arthouse-Auswertung und natürlich den DVD-Start im November. Zwischen Pop- und Hochkultur, zwischen Kommerz und Kunst, ist immer noch jede Menge Platz.

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